Nun hat Slowpunzel endlich ihren Prinzen gefunden, da funkt ihr besorgter Vater dazwischen. Werden sie wieder zueinander finden? Und wie geht es mit der bösen Hexe aus?
Den zweiten Teil des modernen Märchens gibt’s hier.
Die nächsten Tage zogen zäh dahin. Slowpunzel und ihr Prinz schrieben, so gut es die miserable Internetverbindung zuließ, aber nachdem sie ihn nun hautnah gesehen hatte, war ein liebestrunkener Chat nur eine milde Entschädigung.
Als die Sehnsucht für Slowpunzel beinahe unerträglich geworden war, hörte sie ein Klopfen an ihrem Fenster. Erst dachte sie, sie hätte sich verhört, doch dann klopfte es wieder. Und wieder. Slowpunzel stand auf und ging zum Fenster. Sie erschrak, als irgendetwas gegen ihr Fenster schlug. Vorsichtig öffnete sie das Fenster und spähte hinaus. Sie riss die Augen auf: Unten stand wieder ihr Prinz! In seiner linken Hand hatte er lauter kleine Kieselsteine, und die rechte, beladene Hand streckte er gen Himmel.
Der Prinz ist zurück!
„Du bist zurückgekommen“, entfuhr es Slowpunzel. „Aber wo ist dein Raumschiff?“ Sie konnte es nirgends sehen. „Das habe ich etwas weiter weg geparkt, damit dein Vater nichts mitbekommt“, rief ihr Prinz heiter. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Ein riesiges Glücksgefühl breitete sich in ihrem Körper aus.
Doch dann schreckte sie zusammen. „Mein Vater darf dich auf keinen Fall sehen. Der macht sonst einen Riesenaufstand. Warte!“ Sie drehte sich um, sah sich in ihrem Zimmer um und raffte kurzerhand ein dickes Bündel ihrer LAN-Kabel zusammen. Das längste müsste bis zum Boden reichen. Wieder am Fenster angekommen, war sie das Kabelende nach unten. „Kannst du dich damit an der Wand zu mir hochziehen?“, fragte sie unsicher.
Ihr Prinz zog kräftig an dem Kabel, und Slowpunzel überprüfte, dass es fest in der Buchse an der Wand saß. Mit ein paar starken Zügen hangelte sich der erstaunlich sportliche junge Mann an der Hauswand nach oben. Slowpunzel hatte sich noch weit aus dem Fenster gelehnt, um jeden seiner Züge zu bestaunen. Als er sich plötzlich geschickt auf ihr Fenstersims schwang, passte kaum ein Blatt mehr zwischen sie.
Verliebte Blicke
„Wow“, entfuhr es Slowpunzel. „Das war …“ Sie räusperte sich, weil sie sich auf einmal vorkam wie ein dummes Reh. Ihr Prinz strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und sah sie verliebt an. „Mein Gott, du bist in Echt noch viel schöner als auf dem Bild! Das letzte Mal hatte ich gar keine Gelegenheit, deinen Anblick zu genießen.“ Für einen Moment stand die Welt still. Slowpunzel vergaß alles um sich herum. Das Einzige, was zählte, war, dass er hier vor ihr stand. Und seinen Arm um ihre Taille gelegt hatte. Sie versank förmlich in seinen dunklen Augen.
Eine gefühlte Ewigkeit standen sie so da, hielten sich in den Armen und säuselten sich sanfte Worte ins Ohr. Bis irgendwann ein lauter Ruf von unten ihre Träumerei zerstörte: „Slowpunzel, Essen ist fertig!“ Ihre Augen weiteten sich. „Das ist mein Vater. Du musst gehen, bevor er dich sieht.“ Sie drückte ihn sanft aufs Fenstersims, und er schwang sich gewandt aus dem Fenster. Bevor er sich abseilte, drehte er sich ein letztes Mal zu ihr um.
„Es war … unbeschreiblich schön mit dir“, flüsterte er. Ihr Herz wurde warm, und vor lauter Liebesgefühlen drückte sie ihm einen sanften Kuss auf die Lippen. „Komm bald wieder!“ „Darauf kannst du wetten, Prinzessin!“
Und dann war er wieder weg …
Die Zeit verging. Ihr Prinz war noch einige Male über den Kabelweg zu ihr ins Zimmer gestiegen, und jedes Mal wurde es schwerer, ihn gehen zu lassen. Und riskanter. Oft genug war es so knapp gewesen, dass ihr Vater sie beinahe erwischt hätte. So konnte es nicht weitergehen. Das wusste Slowpunzel, und doch hatte sie keine Lösung.
Als ihr Prinz sich das letzte Mal abgeseilt hatte, hatte er ihr versprochen, dass er einen Weg finden würde. Seitdem strichen Tage, Wochen ins Land, ohne dass Slowpunzel von ihrem Prinzen hörte. Sie schlussfolgerte daraus, dass das wohl die Lösung sei, die ihm vorschwebte: Kontaktabbruch, Beenden, was noch beendet werden konnte. Es brach ihr das Herz. Stundenlang saß Slowpunzel auf ihrem Fenstersims und starrte in der niemals endenden Hoffnung, ihren Prinzen wiederzusehen, in die Ferne. Doch nichts geschah.
Eine Überraschung
Als sie schließlich die Hoffnung beinahe ganz aufgegeben hatte, hörte sie draußen ein Scharren. Sie beugte sich aus dem Fenster, doch sie konnte nicht sehen, woher das Geräusch kam. Ihr Herz machte einen Sprung – war das etwa ihr Prinz? Sie sprang auf und rannte die Treppen nach unten. Ihre Eltern sahen ihr überrascht nach und folgten ihrer Tochter nach draußen.
Slowpunzel stand auf der Veranda und glaubte ihren Augen nicht. Ihr Prinz hockte in einem Graben und schaufelte mit einem riesigen Spaten Erde aus dem Graben. Er strahlte sie übers ganze Gesicht an. „Was machst du hier?“, rief Slowpunzel und schlug die Hände an die Wangen. Ihr Blick wanderte den Graben entlang, der schier unendlich lang war. Sie konnte das Ende nicht einmal sehen. „Ich verlege ein Ultraglasfasernetz für dich und deine Familie“, antwortete ihr Prinz stolz. „Du machst waaas?“, riefen nun Slowpunzels Eltern ungläubig.
Der junge Mann stemmte sich aus dem Graben, lehnte sich auf den Spaten und strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Es tut mir leid, dass ich euch so viel Ärger und Kummer bereitet habe. Das möchte ich wiedergutmachen. Und euch beweisen“, sein Blick wanderte zu Slowpunzel, deren Wangen sich rot färbten, „dass ich eurer Tochter würdig bin. Und deshalb habe ich von der Stadt aus einen Graben bis zu eurem Haus gegraben, in dem eine Ultraglasfaserleitung liegt. Damit werdet ihr euch endlich aus eurer ewig schlechten Internetverbindung befreien und wieder an den Rest der Welt angeschlossen sein!“ Er strahlte übers ganze Gesicht, und ein Sonnenstrahl ließ seine blendenden Zähne funkeln. „Es ist die schnellste Verbindung der Welt. Mehr als 10 Millionen Mbit die Sekunde.“
Doch dann erschien aus dem Nichts eine Gestalt
Slowpunzel konnte sich nicht mehr zurückhalten, rannte zu ihrem Prinzen und schwang ihre Arme um seinen Hals. „Mein Held!“, rief sie euphorisch. Ihr Vater stemmte erstaunt die Hände in die Hüften, doch bevor er völlig begriffen hatte, was hier geschah, erschien aus dem Nichts eine Gestalt vor dem Haus – die alte Hexe aus dem Nebenhaus!
„Nichts da“, geiferte sie. „Ihr habt euch an meinem Eigentum vergriffen, und das ist eure Strafe!“ Slowpunzel schrie erschrocken auf. Ihr Prinz jedoch schnappte sich das lange Glasfaserkabel aus dem Graben und rannte in Windeseile damit über die Veranda ins Haus. Die alte Hexe zauberte ein Beil hervor und stürzte sich damit auf das Kabel. Doch der junge Mann war schneller: Er hatte das Kabel ins Modem gesteckt, bevor die Hexe das Kabel erreicht hatte. Und als das Beil das Kabel berührte, erschien ein greller Lichtball – die alte Hexe war verschwunden.
„Donnerwetter!“, rief der Vater verdutzt. „Du hast die Hexe besiegt UND uns von diesem Fluch befreit. Das ist wirklich eine Wucht!“ Slowpunzels Prinz schob sich eine zerzauste Strähne aus dem Gesicht und lachte siegessicher. „Gern geschehen, Sir. Ich hoffe, dass sie nie wieder Probleme mit Ihrem Internet haben werden. Und falls doch“, er zwinkerte Slowpunzel zu, „biete ich Ihnen gern eine kleine Spritztour in meiner Kugel an.“ Während die Mutter freudig in die Hände schlug, lachte der Vater aus ganzem Herzen. „Das werden wir noch sehen, mein Junge! Entschuldige, dass ich dir Unrecht getan habe.“
Slowpunzels Prinz winkte gelassen ab und drehte sich zu ihr um, während der Vater zur Mutter zurückging. Slowpunzel schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich dachte schon, ich hätte dich verloren.“ Er lächelte sie liebevoll an. „Niemals! Es hat nur eine Weile gedauert, diesen Graben zu graben. Aber ich hatte immer ein Andenken an dich dabei.“ Er zog einen Ausdruck ihres Skype-Profilbilds hervor. Sie musste bei dem Gedanken an den gescheiterten Skype-Anruf lachen. „Na, das brauchst du jetzt aber nicht mehr. Ich lass dich nämlich nirgendwohin mehr gehen.“ „Keine Sorge“, schmunzelte ihr Prinz. „Das habe ich auch nicht vor, Prinzessin!“
Die beiden küssten sich leidenschaftlich und lebten glücklich und mit bestem Internetempfang bis an ihr Lebensende.