Vom Fluch der alten Hexe belegt wächst Slowpunzel ohne schnelles Netz auf und somit auch ohne Verbindung zur Außenwelt. Wie wird es mit ihr weitergehen? Und wann kommt endlich der Prinz?
Den ersten Teil des modernen Märchens gibt’s hier.
Und so zogen die Jahre ins Land. Slowpunzel wurde älter und lernte, mit der langsamen Internetverbindung umzugehen. Nicht, dass sie eine gut funktionierende Lösung fand, aber sie suchte kontinuierlich nach Tricks, um das Optimum aus der spärlichen Empfangslage herauszuholen.
So hatte sie ihr gesamtes Zimmer mit meterlangen LAN-Kabeln ausgelegt, um die Verbindung so stabil wie möglich zu gestalten. Damit sie über ihr Handy das optimale WLAN empfing, steckten in jeder Steckdose ihres Zimmers WLAN-Verstärker, die jedoch zugegebenermaßen nur wenig brachten. Auch außerhalb des Hauses war das Funknetz miserabel. Mehr als eine mickrige E-Verbindung war da nicht herauszuholen, und selbst die bekam Slowpunzel nur, wenn sie das Handy weit in einem ganz bestimmten Winkel aus dem Dachfenster hielt. Auf mysteriöse Art und Weise hatte die Hexe mit dem Koffer oder ihre gruseligen Helfer nicht nur die Internetverbindung gekappt, sondern auch das gesamte Haus völlig gegen jegliche Wellen von außen abgeschirmt.
Ein unbekannter Chatter
Eines Tages, als ihre Eltern unterwegs waren und das Internet somit vollkommen unbelegt für Slowpunzel zur Verfügung stand, loggte sie sich in ihren Lieblingschatroom ein und schrieb eine freudige Nachricht: „Freies Internet – yay!“ Es poppte sofort eine Nachricht von einem User auf, den Slowpunzel noch nicht kannte: „Es sind die kleinen Freuden des Alltags, die das Leben schöner machen!“ Slowpunzel musste lachen und tippte schnell eine Antwort: „Wenn du wüsstest …“ Kurz danach bekam sie eine Privatnachricht: „Wenn ich was wüsste?“
Slowpunzel grinste. Sie machte es sich in ihrem Kabelsalat bequem und formulierte eine unverfängliche Antwort, auf die sie schnell wieder eine Antwort bekam. Das ging so hin und her, bis Slowpunzel plötzlich merkte, dass es draußen schon dunkel geworden war. Sie hatte die Zeit völlig vergessen bei dem Schlagabtausch mit dem Unbekannten, der ihr plötzlich gar nicht mehr so unbekannt vorkam.
Die nächsten Tage hüpfte Slowpunzel direkt nach dem Aufwachen an ihren Schreibtisch und klappte ihren Rechner erst zu, wenn ihre Augen zufielen. Es nervte sie unsäglich, wenn das Laden der Chatroom-Seite unendlich lange dauerte, nur weil ihr Vater unten eine E-Mail schrieb. Sie ranzte ihre Eltern an, wenn sie sie zum Essen riefen und sperrte sich den Rest des Tages in ihrem Zimmer ein. Sie wollte allein sein. Allein mit ihrem Prinzen, wie sie ihn liebevoll nannte. Den beiden gingen die Gesprächsthemen einfach nicht aus. Sie schrieben über ihre Lieblingsmusik, scherzten über lustige Chatposts oder schimpften über ihre Eltern. Slowpunzels Augen leuchteten, wann immer sie eine neue Nachricht bekam. Sie tippte so schnell und aufgeregt, dass manchmal nur Buchstabensalat dabei herauskam. Noch nie hatte sie so etwas erlebt.
Lust auf Skype?
Eines Tages bekam sie eine Nachricht, bei der ihr die Kinnlade herunterklappte. „Hast du Lust zu skypen?“, stand in schwarzen Lettern auf dem Bildschirm vor ihr. Sie spürte, wie ihr Herz sich überschlug und ihre Hände zu zittern begannen. „Jetzt?“, tippte sie vorsichtig. Sie betete zu Gott im Himmel, dass er nicht jetzt auf der Stelle skypen wollte. „Warum nicht?“, war die Antwort.
Sie atmete stoßweise aus und rannte ins Badezimmer. Sie sah furchtbar aus. Ihre Haare standen zerzaust in alle Richtungen. Auf ihrer Stirn prangerte ein Pickel, weil sie in den letzten Tagen kaum Tageslicht gesehen hatte. Sie konnte so unmöglich mit ihm skypen. Schnell wusch sie sich das Gesicht, kniff sich zweimal kräftig in die Wangen und bürstete sich die Haare. Sie war so nervös, dass sie beim Zurücklaufen beinahe auf dem Badezimmerteppich ausrutschte. Was, wenn sie ihm nicht gefiel?
Sie setzte sich aufgedreht an den Rechner zurück und sah, dass sie bereits eine Skype-Einladung bekommen hatte. Slowpunzel redete sich gut zu, wischte sich die schwitzigen Hände an der Hose ab und klickte auf Akzeptieren. Sofort ertönte die typische Melodie, wenn ein Skype-Anruf eingeht. Mit zittrigen Fingern drückte sie auf das grüne Hörnchen. Jetzt ging es los.
Kein Empfang
Doch statt den Anruf freizugeben, ertönte ein Abbruchsignal. Slowpunzel runzelte die Stirn und drückte selbst immer wieder hektisch auf Anrufen, doch nach einer kurzen Ladezeit erschien jedes Mal die Fehlermeldung Internetverbindung instabil.
Hastig rannte Slowpunzel die Treppe herunter, riss alle Kabel aus dem Modem, zählte innerlich bis drei und steckte die Kabel wieder hinein. „Was machst du denn da, Spätzchen?“, fragte ihr Vater neugierig. Slowpunzel verdrehte die Augen. „Nichts, Pap. Internet ist wieder weg.“
Sie rannte zurück nach oben und fixierte die Internetbalken. Die Zeit, bis das Modem vollständig hochgefahren war, schien unendlich. Sie drückte wieder mit zittrigen Händen auf Anrufen, wieder nichts. Sie raufte sich die Haare. Das war doch nicht zu fassen!
„Ich komme nicht zu dir durch“, schrieb ihr Prinz indessen. Mit einem traurigen Smiley. „Moment“, schrieb Slowpunzel zurück. Sie kroch auf das Fenstersims, streckte und reckte sich, um ihr Handy so weit wie möglich aus dem Fenster zu halten. Dann drückte sie auf ihrer Skype-App auf den Anrufen-Button. Die Verbindung wurde hergestellt. Ha, wer sagt’s denn?!
Schlechte Verbindung
„Hallo?“, rief eine maskuline Stimme aus dem Telefon. „Hallo?“, rief Slowpunzel aufgeregt zurück. „Kannst du mich gut hören?“ Sie musste sehr laut rufen, weil das Handy so weit weg von ihrem Mund war. „Ja! Aber die …bindung … schlecht. … nur Bruchstücke …. Hallooooo?“ Oh nein, sie konnte ihn kaum hören! Und dabei hatte sie noch nicht einmal ihre Kamera an. So ein Mist!
„Halloooo! Ich kann dich hören!!!“, rief sie verzweifelt. Doch auf der anderen Seite hörte sie nur ein Dauertuten. Er hatte aufgelegt. Entmutig ließ sie sich auf das Fenstersims sinken und streichelte traurig den Rand ihres Handys. Sie vergrößerte sein Profilbild, das sie schon aus dem Chat kannte, und eine Träne fiel auf den Bildschirm. Slowpunzel schniefte und wimmerte und verfluchte die Hexe im Nachbarhaus, die ihr jegliche Chance auf Liebesglück genommen hatte. Sie schlurfte mutlos zum Schreibtisch zurück.
„Tut mir leid, aber die Verbindung war wirklich nicht gut genug!“ Diesmal weinte der Smiley sogar. Slowpunzel klappte den Rechner zu, schaltete das Licht aus und krabbelte ins Bett. Sie wollte niemanden mehr sehen, niemanden mehr hören und mit Sicherheit mit niemandem mehr schreiben.
Die nächsten Tage zogen trüb an ihr vorbei. Ihr Prinz hatte ihr zwar einige Nachrichten geschrieben, doch was nützte es, mit ihm zu schreiben, wenn sie doch keine gemeinsame Zukunft hatten? Slowpunzel wollte sich nie wieder so fühlen, wie an diesem Abend, als ihr Herz brach. Sie wusste, dass sie sich etwas vormachte, wenn sie glaubte, er und sie hätten eine Chance. Sie würden nie zusammen sein können. Nicht bei dieser lausigen Internetverbindung. Slowpunzel war gefangen in einem abgeschirmten Kerker.
Ein Rauschen wie von einem Schnellzug
Eines Abends, als Slowpunzel traurig auf ihrem Bett hockte, hörte sie draußen ein Rauschen wie von einem Schnellzug. Der dunkle Himmel wurde taghell, und Slowpunzel stürzte zum Fenster. Ein kugeliges, weißes Raumschiff ließ sich direkt vor ihrem Haus nieder. Slowpunzel öffnete das Fenster und spähte hinaus. Sie glaubte ihren Augen nicht: Unten stand ihr Prinz! Sein strahlendes Lachen hätte sie unter tausend anderen erkannt.
„Was machst du denn hier?“, entfuhr es Slowpunzel. „Und woher weißt du, wo ich wohne?“„Ich habe deinen Standort getrackt“, rief ihr Prinz heiter. „Du hast dich nicht mehr gemeldet, und da habe ich mir Sorgen gemacht. Nicht, dass dir irgendwas passiert ist.“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Und was ist das?“ Sie wies auf die große metallene Kugel. „Das ist Planet2Go – das erste Raumschiff, mit dem man Planeten-Hopping machen kann!“, antwortete ihr Prinz stolz. „Was? Von woher kommst du denn?“ Slowpunzels Augen wurde immer größer. „Vom Maers. Meine Familie ist noch vor meiner Geburt hingezogen.“ „Aber …“ Slowpunzel runzelte die Stirn. Die Internetverbindung reichte doch gar nicht bis zum Maers. Wie konnte sie da überhaupt mit ihm chatten? „Und da bist du einfach den ganzen Weg mit diesem Ding hierhergekommen?“, fragte sie verwundert. Er nickte lachend. „Natürlich! Für ein schönes Mädchen in Not tut ein Ehrenmann doch alles.“ Slowpunzel hielt sich lächelnd die Hand vor den Mund. In ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen der Freude.
Mach, das du wegkommst, du Lausbub!
Plötzlich öffnete sich ruckartig die Haustür, und ihr Vater stand auf der Veranda. Er hielt in einer Hand einen erhobenen Regenschirm. „Mach, dass du wegkommst, du Lausbub!“, schrie er. Sicher war das wieder ein Gefährte der alten Hexe von nebenan. Sie war ihm jedes Mal auf die Schliche gekommen, wenn er einen Weg gefunden hatte, ihren Strahlenschirm zu unterlaufen. Und erst vor einigen Wochen hatte er einen Kniff entdeckt, mit dem es möglich war, planetenübergreifende Programme wie Internetspiele im Multi-Player-Modus oder Chatrooms in einen Intermediumstatus zu bringen und so den Fluch der Hexe zu umgehen. Bestimmt wollte dieser getarnte Prinz Charming jetzt auch diesen Trick zunichtemachen.
„Papa“, rief Slowpunzel aufgeregt, „nicht! Er gehört zu mir.“ Ihr Prinz drehte sich bei diesen Worten entzückt zu ihr. „Was?“, rief ihr Vater verwundert. Diese Hexe schreckt auch vor gar nichts zurück. Hatte sie jetzt tatsächlich ihre Gefährten auf seine unschuldige Tochter losgelassen? „Nichts da, Slowpunzel! Du kannst ihm nicht vertrauen.“ „Papa!“ Slowpunzel standen Tränen in den Augen. „Ich versichere Ihnen, Sir, dass ich nur gute Absichten habe“, versuchte der Prinz zu schlichten. „Erzähl mir nichts, Bürschchen! Ich habe dich durchschaut. Und jetzt verschwinde!“ „Papa!!!“, quietschte Slowpunzel wieder.
Ihr Prinz redete auf ihren Vater ein und beteuerte, dass er nichts Böses im Schilde führte. Doch ihr Vater blieb hart und fuhr ihn an, dass er sich zum Teufel scheren soll. Er ließ ein, zwei Mal den Regenschirm warnend durch die Luft peitschen, bis er schließlich laut polternd die Wohnungstür zuschmiss.
Slowpunzel stand tränenüberströmt am Fenster. Unten schaute ihr Prinz lächelnd zu ihr hoch. „Ich komme wieder“, rief er und war ihr einen Kusshand zu. „Sei nicht traurig, Prinzessin!“Slowpunzel schmolz dahin. Schmachtend schaute sie ihm hinterher, als er mit seinem Raumschiff rauschend in der Ferne verschwand.
Nie wieder würde sie ihrem Vater verzeihen!
Dann rannte sie wütend nach unten und fuhr ihren Vater an: „Was habe ich dir getan?“ Er funkelte sie böse an: „Was du getan hast? Du hast einen fremden Jungen zu uns geholt. Gott weiß, was für ein Kerl das ist. Hast du eine Vorstellung, was dabei passieren kann, junges Fräulein?“ „Unfug!“, harschte Slowpunzel ihn an. „Er ist vollkommen normal. Mehr als das. Er ist extra für mich hierhergekommen. Aber du…“, sie schnappte nach Luft, „du hast es kaputtgemacht!“ Ihr Vater erhob warnend den Finger. „Du wirst diesen Jungen nicht wiedersehen, Slowpunzel! Haben wir uns verstanden?“
Sie rannte schäumend in ihr Zimmer zurück und warf die Zimmertür zu. Nie wieder würde sie ihrem Vater verzeihen.
Fortsetzung folgt.