Ich komme gebürtig aus Brandenburg. Und einer der Lokalhelden meiner frühen Jugend war Erwin Strittmatter. Der Erwin-Strittmatter-Verein organisierte dieses Jahr den Literaturwettbewerb „Alltag im Wort“ – und meine Kurzgeschichte „Lied ohne Worte“ hat es in die Anthologie geschafft.
Das Alltägliche in Poesie
„Alltag im Wort“ war das Thema eines Literaturwettbewerbs, zu dem der Erwin-Strittmatter-Verein aufgerufen hatte. Weit über sechshundert Texte aus vierzehn Ländern wurden eingereicht. Die einhundert berührendsten sind in der gleichnamigen Anthologie versammelt. Menschen aller Altersgruppen verwandeln darin das Alltägliche in Poesie. Die Anthologie ist am 08.08.2019 im SEW-Verlag erschienen.
Alltag im Wort
Erwin-Strittmatter-Verein e. V. Bohsdorf (Hrsg.)
218 Seiten
ISBN-13: 9783936203387
10,00 EUR, Reduzierter Satz, Gebundener Ladenpreis inklusive Steuer
Ohne Worte
Die Kurzgeschichte „Lied ohne Worte“ handelt von einer jungen Pianistin, die ihr Lieblingsstück Clair de Lune bei einem Konzert spielt und dabei ganz ohne Worte viel zu sagen hat.
Leseprobe gefällig?
Lied ohne Worte
Frustriert ließ sie ihre Hände auf die schwarz-weißen Tasten fallen. Sie wollte überhaupt nicht hier sein. Und ganz bestimmt wollte sie sich nicht mit diesem großen, klobigen Ding auseinandersetzen. Das war alles die Schuld ihres Bruders. Hätte er sich nicht den Arm gebrochen, müsste sie jetzt nicht seine Klavierstunden absitzen.
Sie seufzte und richtete ihre Hände wieder auf. Doch schon nach wenigen Tönen stolperte sie über ihre eigenen Finger. Niemals würde sie das lernen.
„Was ist los?“, fragte die junge Klavierlehrerin. „Warum ziehst du so ein Gesicht?“
Sie pulte an ihren Nägeln, unter denen sich Dreckreste vom Spielen im Garten gesammelt hatten. „Ich will eigentlich lieber singen“, murmelte sie schüchtern, „und ein großer Star werden!“ Ihre Augen glitzerten vor Begeisterung.
„Weißt du“, antwortete die Klavierlehrerin, „du kannst auch singen, ohne den Mund aufzumachen. Wenn du viel übst und irgendwann richtig gut spielst, dann ist es fast so, als würdest du singen. All das, was du sagen möchtest, wird durch deine Finger ins Klavier fließen und oben als Musik wieder herauskommen.“
Jahre später stand sie hinter einer großen Theaterbühne und wünschte sich etwas, an dem sie sich festhalten konnte. Doch sie hatte nur sich selbst. Sie wischte sich die Hände an ihrem bodenlangen Kleid ab und knetete ihre Finger, um sie warm zu bekommen.
Der Lichtkegel fing sie ein. Sie nahm ihren Mut zusammen und ging zügig zum aufgeklappten Steinway, warf einen kurzen Blick ins Publikum, sah aber nichts, weil die Scheinwerfer zu hell waren. Sie setzte sich auf den samtenen Schemel, rückte ihn gekonnt in die richtige Position, und dann war es still.
Diese Stille machte sie nervös. Alle Augen waren auf sie gerichtet, das konnte sie spüren. Schnell schloss sie die Augen und zog sich ganz in sich zurück. Bis sich eine tiefe Ruhe in ihr ausbreitete.
Die Anthologie gibt’s als Taschenbuch im Buchhandel oder direkt beim Verlag zu kaufen. Viel Spaß beim wortlosen Lauschen!