Ich liebe Weihnachten. Nicht unbedingt das ganze Drum und Dran: Tannenbäume, Weihnachtsmärkte, Adventskränze. Ich mag Weihnachten, weil ich das Gefühl habe, dass die Menschen da ein bisschen netter zu einander sind als sonst.
Zumindest bin ich netter. Natürlich liegt ein gewisser Geschenkedruck und Endjahresstress in der Luft, aber mir kommt es so vor, als wären die Menschen trotzdem harmonischer. Vielleicht liegt das an dem ganzen Glühwein, mit ein bisschen Alkohol in den Venen ist man ja bekanntlich lockerer. Vielleicht liegt es aber auch an der ganzen Schokolade, die Glückshormone freisetzt. Was auch immer es ist, ich find’s toll.
Das ist wirklich freundlich von Ihnen!
Neulich bin ich am Stadttor in die Bahn Richtung Büro gefahren. Die Haltstelle am Stadttor wird von zwei Straßenbahnen angefahren: Eine in Richtung Hauptbahnhof und eine, die vor dem Hauptbahnhof abbiegt. Letztere führt mich zur Arbeit. Ich stehe also an der Haltestelle und beobachte die Kinder in der Kita gegenüber der Haltstelle, wie sie völlig unbekümmert vor sich her spielen – bewundernswert. Die Bahn kommt und ich steige hinter einem Herren mit Reisekoffer ein. Na, der will doch bestimmt zum Bahnhof, denke ich mir. Aber ganz in der leider viel zu verbreiteten Me first! Mentalität setze ich mich erst einmal und suche in seinem Verhalten nach Anzeichen dafür, dass meine Vermutung stimmt. Er schaut sich weder suchend um, noch studiert er den Fahrplan. Stattdessen ist er in einem Gespräch mit einem anderen Fahrgast vertieft. Na gut, denke ich, wat weiß ich, wo der hin will.
Aber so ganz los lässt mich der Gedanke nicht. Also stehe ich kurz vor der letzten Möglichkeit, Richtung Hauptbahnhof umzusteigen, auf und gehe zu ihm rüber. Entschuldigung, dass ich Sie so direkt anspreche, aber wollen Sie zufällig zum Bahnhof? Ich deute auf seinen Koffer. Nein nein, vielen Dank, der Herr dort drüben hat mich schon darauf hingewiesen, dass diese Bahn nicht zum Bahnhof fährt. Ich schaue zu dem anderen Fahrgast und bin etwas verdutzt, dass es außer mir noch andere Menschen in dieser Bahn gibt, die nicht nur an sich selbst denken. Ah ok, sage ich, dann ist es ja gut. Es verwechseln viele die Bahnen am Stadttor und ich wollte Sie davor bewahren, in die falsche Richtung zu fahren und womöglich Ihren Anschluss zu verpassen. – Das ist wirklich freundlich von Ihnen! In Düsseldorf scheint es überdurchschnittlich viele nette Menschen zu geben. Vielen Dank und frohe Weihnachten. Ich lache und denke mir insgeheim: Dass du dich da mal nicht täuscht. Als ich zu meinem Platz zurückgehen möchte, sehe ich, dass er längst wieder besetzt ist. Weggegangen, Platz vergangen. Hebt mich aber auch nicht an, denn mein Herz ist ein bisschen wärmer geworden.
Ich war mal so frei, Sie zu entlasten
Ein paar Tage später war ich (auch in der Bahn, aber diesmal im ICE) auf dem Weg zu einem Kundentermin. Es war einer dieser Pendlerzüge von Düsseldorf nach Stuttgart, die einfach immer proppevoll sind. Da reihen sich die Leute in den Gängen und es dauert eine halbe Stunde, bis ich an meinem Platz ankomme. Und habe ich ihn endlich erreicht, muss alles ganz schnell gehen, denn sonst schiebt der Nächste wieder seinen Koffer in meine Hacken. Also schnell die Handtasche auf den Sitz (dabei idealerweise nicht den Nachbarn erschlagen), die Laptoptasche unter den Sitz und den Koffer in die Ablage. Meine Laptoptasche klemmt, irgendwie habe ich es geschafft, den Halteriemen am Stuhl zu verhaken. Mir tropft schon der Schweiß, denn Verzögerungen im Prozess sind ganz schlecht. Ganz schlecht! Und wie das so ist: Wenn man sich beeilen will, dauert alles immer länger, weil man sich verheddert, hängen bleibt und so weiter.
Als ich mich endlich zu meinem Koffer umdrehe, um ihn in die Ablage zu bugsieren, ist er weg! Mein Herz setzt kurz aus. Ich schaue suchend um mich, als sich ein freundliches Gesicht in mein Sichtfeld schiebt. Ich war so frei, Ihren Koffer schon einmal dort oben zu verstauen, um Sie zu entlasten. What? Dass ich das noch erlebe. Danke, das ist wirklich nett von Ihnen. Ich hoffe, er war nicht zu schwer? – Ach was, gar kein Problem. Man tut, was man kann, oder? Ich setze mich und lasse den Moment kurz nachwirken. Wie leicht es doch sein kann. Eine kleine Geste, die mir die Zugfahrt rettet. Ganz ohne Gegenleistung.
Mehr Harmonie in der Weihnachtsluft
Natürlich sind solche Situationen nicht zwangsläufig an Weihnachten gebunden. Sie können immer passieren. Und ich wäre wirklich begeistert, wenn es so wäre! Ist es nur leider nicht. Sie sind keine Selbstverständlichkeit. Die meisten von uns laufen durchs Leben, ohne nach rechts und links zu schauen. Oft ist dafür auch schlichtweg keine Zeit, ich nehme mich da selbst nicht aus. Wir leben in intensiven Zeiten. Ich finde das sehr schade und halte so oft ich kann inne, um wacher und rücksichtsvoller durchs Leben zu gehen.
Und doch freue ich mich jedes Jahr wieder auf die Weihnachtszeit. Wenn mehr Harmonie in der Luft liegt.